
Alice Baum wurde am 15. Februar 1902 in Usingen (Taunus) als Tochter von Bermann (auch Bärmann) Baum (1867-1939) und Cäcilie Baum, geb. Hirsch (1870-1922), geboren. Ihr jüdischer Vater war Kaufmann und betrieb zusammen mit anderen Familienmitgliedern in Usingen ein Möbel- und Textilgeschäft in der Obergasse 11 (Firma Raphael Baum). Er stammte aus Hasselbach, einem kleinen Dorf im Hintertaunus, in dem es eine kleine jüdische Gemeinde gegeben hatte - 1885 lebten noch zwölf Juden im Dorf. Ihre Mutter stammte aus Freudenheim (Österreich-Ungarn?). Alice Baum hatte eine ältere Schwester namens Liesel (Elisabeth) Baum, geboren im Jahr 1900.
Bermann Baum war in Usingen sehr aktiv. Zum Beispiel ist er im Jahr 1917 einer von drei Aufsichtsratsmitgliedern des Usinger Vorschußvereins gewesen. Zwei Jahre später, am 9. März 1919, ist Bermann Baum sogar zum Ersten Vorsitzenden der Usinger Kreis- und Ortsgruppe des Volksbundes gewählt worden. 1924 wurde er zum Mitglied des Gewerbeausschusses des Kreises Usingen gewählt. Weitere drei Jahre später wählte der neue "Handwerker- und Gewerbeverein Usingen" Bärmann Baum zum Zweiten Vorsitzenden. Und im Frühjahr 1930 stellte der Heimat- und Verkehrsverein Usingen Ruhebänke im Ort auf, etwa am Hattsteiner Weiher. Hierzu hieß es: "Die Schaffung dieser Bänke ist vor allem Kaufmann Bärmann Baum zu verdanken."
Auch Alice Baum war in der Usinger Gesellschaft aktiv. Zum Beispiel gewann sie auf dem Maskenball der Usinger Turngemeinde 1846 e.V. im Hotel Adler im Jahr 1926 zusammen mit der ebenfalls jüdischen Lilli Hirsch die beiden ersten Preise für die beste Maske. Sie heiratete 1928 Carl (auch Karl) Rosenthal, 1898 ebenfalls in Usingen geboren. Er war Sohn des in Herold geborenen jüdischen Kaufmanns August Rosenthal (1871-1933) und seiner aus Grävenwiesbach im Taunus stammenden jüdischen Frau Rosa (auch Rosalie), geb. Strauß (1870-?). Beide hatten zwei Kinder, und zwar den 1929 geborenen Richard und die 1933 geborene Cäcilia.

Alice Baum ist der Sektion Frankfurt am Main des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins im Jahr 1923 beigetreten. Ihr Vater, Bermann Baum, war bereits 1909 Mitglied dieser Sektion geworden. Er dürfte sie daher für den Eintritt empfohlen haben. Interessanterweise wurde ihr Vater in den Jahresberichten der Frankfurter Sektion vor dem Ersten Weltkrieg korrekt als Bermann Baum gelistet, im Verzeichnis der Mitglieder im Jahresbericht für den Zeitraum 1919 bis 1924 jedoch als Hermann Baum. Ob es sich hierbei um einen Tippfehler oder eine bewusste Verschleierung des jüdischen Vornamens Bermann handelt, konnten wir aufgrund fehlender Quellen nicht klären.
Nach der Einführung des sogenannten "Arierparagrafen" in der Satzung der Frankfurter Sektion im Februar 1934 konnte Alice Baum, seit ihrer Heirat im Jahr 1928 Rosenthal, nicht mehr Mitglied bleiben. Ihr Vater war als Mitglied von vor 1914 von diesem Paragrafen nicht betroffen. Allerdings wurde Bermann Baum 1934 nicht für seine 25-jährige Mitgliedschaft im Alpenverein ausgezeichnet. Deshalb ist davon auszugehen, dass er zuvor aus der Sektion ausgetreten war. Daher vermuten wir, dass auch Alice Rosenthal aus der Sektion ausgetreten ist.

Alice Rosenthal und ihr Mann wurden im November 1938 von örtlichen Nationalsozialisten in ihrem Haus in der Usinger Obergasse überfallen und misshandelt. Glücklicherweise hatten sie Alices Vater Bermann Baum und ihre beiden Kinder Richard und Cäcilia rechtzeitig vorher zu ihrer Schwester Elisabeth nach Freiburg (im Breisgau) geschickt. Nach dem Krieg hat Carl Rosenthal diese Misshandlungen im November 1938 in einer Aussage für einen Prozess in Deutschland folgendermaßen beschrieben:
"Man jagte uns mit Schlägen die Treppe hinunter und auf die Straße. Auf der Straße stand eine große Menschenmenge, soweit ich das in meiner damaligen Aufregung beurteilen konnte, mögen es etwa 150 bis 200 Leute gewesen sein, die den an uns verübten Mißhandlungen untätig zusahen. [...] Sobald ich die Straße betreten hatte, verlor ich meine Frau aus den Augen. Ich selbst wurde unter ständigen Schlägen und Tritten die Obergasse in Richtung Marktplatz hinunter gejagt. [...] Unter Gejohle, Geschrei und Beschimpfungen aus der Menge erreichte ich den Brunnen, der mitten auf dem Marktplatz gegenüber vom Rathaus steht. An dem Brunnen kam meine Verfolgung für kurze Zeit zum Stillstand. [...] Ich riß mich los und rannte auf das Goldschmidtsche Haus zu, das ebenfalls am Marktplatz, etwas zurück liegt. Meine Verfolger rannten hinter mir her und schlugen und traten fortgesetzt auf mich ein. Ich weiß, daß ich auf dem Weg vom Brunnen zum Goldschmidtschen Haus mindestens einmal, soweit ich mich erinnere, aber mehrmals hingefallen bin, mich aber immer wieder aufgerappelt habe. Schließlich erreichte ich einen kleinen Gang zwischen dem Goldschmidtschen Haus und dem Nachbarhaus [...]. In diesem Gang wurde ich endgültig gestellt und zusammengeschlagen. [...] So weiß ich mit aller Bestimmtheit, daß, nachdem ich in dem Gang zusammengeschlagen worden war und kurze Zeit benommen am Boden gelegen hatte, ich von H. S. an den Füßen ergriffen und auf einen inzwischen herbeigeholten Handwagen geschleift wurde. [...] Man zog mich mit dem Handwagen bis zum Alten Friedhof hinter der evangelischen Kirche. [...] Sicher ist jedenfalls, daß S. und E. mich anfaßten und schon, während sie mich vom Wagen herunterholten, mit Schlägen und Tritten mißhandelten. Zugleich wurde aus der übrigen Gruppe gerufen: 'Schlagt ihn doch tot, den Juden!' und ähnliches. [...] Sie warfen mich die unmittelbar neben dem Weg liegende Böschung hinunter, die zur Verbindungsstraße zwischen der Bahnhofsstraße und der Wehrheimer Straße hin abfällt. Sie kamen die Böschung herunter nach, nahmen ihre Mißhandlungen sofort wieder auf und schleiften mich über die erwähnte Verbindungsstraße und über die Wiese zum Bach. [...] Wiederum waren es E. und S., die mich, vielleicht unter Beteiligung eines oder mehrerer anderer, in den Bach hineinstießen bzw. warfen. [...] Ich habe dann längere Zeit im Wasser gelegen aus Furcht, daß ich, wenn ich jetzt schon herauskäme, weiter mißhandelt werden würde. Dann bin ich aus dem Bach herausgeklettert und mit meinen triefenden Kleidern unter Umgehung von Usingen und aller Straßen quer durch den Wald nach Wehrheim gelaufen, wo ich bei der befreundeten Familie Hartmann trockene Kleider und etwas Geld bekam."
Alice und Karl Rosenthal sind etwas später zu ihrer Schwester Elisabeth Epstein, geb. Baum, nach Freiburg (im Breisgau) gegangen und von dort 1939 in die USA ausgewandert. In den USA haben sie in Shreveport (Louisiana) gelebt und gearbeitet. Carl Rosenthal ist bereits im Jahr 1958, kurz vor seinem 60. Geburtstag verstorben. Alice Rosenthal starb im Mai 1959, noch nicht einmal 57 Jahre alt. Beide wurden auf dem Jüdischen Friedhof Gates of Prayer in New Orleans (Louisiana) beerdigt. Ihr Sohn Richard Baum wirkte mehr als 40 Jahre als Rabbiner in Tacoma (Washington) und verstarb dort 1999. Ihre Tochter Cecile Lepold ist 2005 verstorben und auf einem anderen jüdischen Friedhof in Louisiana beerdigt worden.
Bermann Baum, der Vater von Alice, ist schon im Februar 1939 in Freiburg (im Breisgau) verstorben. Die ältere Schwester Elisabeth Epstein konnte in die Schweiz auswandern. Alices Onkel Bernhard Baum, der jüngere Bruder ihres Vaters, ging 1938 aus Usingen nach Frankfurt am Main und ist von dort im September 1942 nach Theresienstadt deportiert worden. Er verstarb im November 1943 aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen in Theresienstadt. Alices Schwiegermutter, Rosalie Rosenthal, ging zuerst aus Usingen nach Frankfurt am Main. Sie konnte später ebenfalls in die USA auswandern und sich so der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland entziehen.
Quellen und Literatur
Jahresberichte der Sektion Frankfurt am Main des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, online abrufbar
Nachruf auf Rabbiner Richard Rosenthal in The Seattle Times, online abrufbar
Nachruf auf Barbara Rosenthal, die Ehefrau von Richard Rosenthal, online abrufbar
Stephan Kolb: "... aus der Stadt gewiesen". Die Juden von Usingen. Gießen 1996
Joachim Bierwirth: Die jüdischen Einwohner von Usingen. Materialien zur Rekonstruktion insb. ihrer älteren Geschichte. Usingen 2000, S. 50-51.