„…habe ich ihn mit Schreiben vom 26. Juni diesen Jahres aus der Sektion ausgeschlossen. Mit Bergheil und Heil Hitler!“
Rudolf Seng
Führer der Sektion Frankfurt/Main des Deutschen Alpenvereins
1935
Familie und Studium
Ernst Meissinger als Junge mit Vater Karl August, der kleinen Schwester Lilli und Mutter Rosa (von links), etwa 1915/16.
Ernst Meissinger mit Vater, Schwester Lilli und Mutter Rosa (von links), etwa 1915/16. Quelle: Joyce Arnon

Ernst Meissinger wurde am 5. März 1910 in Straßburg geboren. Sein Vater Karl August Meissinger war evangelischer Theologe, Lehrer, Luther-Experte und später Schriftsteller, seine Mutter Rosa geb. Oppenheimer war in einer orthodox jüdischen Familie aufgewachsen. Beide Eltern kamen aus dem Hessischen. Ernst hatte drei weitere Geschwister (Lilli, Hans und Marlies) und war der älteste von ihnen. Alle vier Kinder wurden evangelisch getauft. Die Familie ging nach dem Ersten Weltkrieg zurück nach Frankfurt, sie wohnten lange in Ginnheim im Fuchshohl 49. Ende 1929 verließ der Vater die Familie, das stürzte Mutter Rosa mit den vier Kindern in anhaltende finanzielle Probleme.

Nach dem Abitur 1928 am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium (heute Heinrich-von-Gagern-Gymnasium) begann Ernst Meissinger in Frankfurt zu studieren: Germanistik, Geographie und Geschichte, er wollte Lehrer werden. Wegen der prekären Finanzlage der Familie musste er wiederholt Gebührennachlass und Beihilfen beantragen. Bereits 1930 legte er die Prüfung als Turn- und Sportlehrer ab. 1934 promovierte er in Geographie. Seine Dissertation wurde mit "magna cum laude" bewertet. Sie behandelte die "Almgeographie des Illerquellgebietes." Für die Arbeit hatte er intensive Feldforschung im Allgäu im Raum Oberstdorf betrieben.

Meissingers Doktorvater Prof. Walter Behrmann lobte in seinem Gutachten die Dissertation: "Die vorliegende Arbeit basiert auf genauester Beobachtung an Ort und Stelle, auf Studium der Wirtschaftsgeschichte und der Archive, sowie der Statistik. […] Sie verlangt körperliche Ausdauer, wie jede Hochgebirgsarbeit. Sie ist mit großem Fleiß durchgeführt, wie Herr Meissinger überhaupt trotz schwierigster familiärer Verhältnisse mutig die wissenschaftliche Arbeit weiterführt." Den Druck der Arbeit konnte Meissinger aus Geldnot erst 1936 finanzieren.

Alpenverein: Engagement und Ausschluss
Korrespondenz von Sektionsführer Seng über Ernst Meissingers Ausschluss aus der Sektion im Jahr 1935.
Korrespondenz von Sektionsführer Seng über Ernst Meissingers Ausschluss aus der Sektion im Jahr 1935. Quelle: Archiv der Sektion Frankfurt am Main

1930 trat Meissinger in die Frankfurter Sektion des Alpenvereins ein. Er wurde sehr bald vorläufiger Obmann der neuen Studentischen Vereinigung, die der Verein auf Anregung von Meissingers Doktorvater Prof. Behrmann gegründet hatte. Der Sektionsvorsitzende Max Moritz Wirth schrieb noch im gleichen Jahr begeistert im Nachrichtenblatt der Sektion, Meissinger sei "sofort in volle Aktion getreten, sodass diese Abteilung bereits 25 Mitglieder aufweist". Bis ins Jahr 1933 organisierte Meissinger immer wieder Touren, Kurse und Fahrten und hielt zahlreiche Vorträge. Auch schrieb er viele Berichte für das Nachrichtenblatt (hier ein Beispiel). Die Studentische Vereinigung wuchs weiter.

Ab 1934 wurde die Gruppe kaum noch im Sektions-Mitteilungsblatt erwähnt, da sie laut Nachrichten-Blatt Nr. 2 vom April 1935 von der neuen Sektionsführung unter Seng im Anfang 1934 aufgelöst und der Bergsteigergruppe angeschlossen worden war. Dies dürfte im Zuge der Gleichschaltung der Vereinsstrukturen geschehen sein - die neue Sektionsführung wollte eine straffe Hierarchie und weniger Eigenleben einzelner Gruppen.

Ernst Meissinger selbst wurde sogar aus der Sektion ausgeschlossen. Sektionsführer Rudolf Seng war zugetragen worden, dass Meissinger eine jüdische Mutter habe. Der Ausschluss scheint aber eine sensible Angelegenheit gewesen zu sein: Seng schaltete eigens den übergeordneten Verwaltungsausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DuÖAV) ein und bat um "vertrauliche Mitteilung an mich persönlich, ob nach den Arierbestimmungen Herr Meissinger weiterhin Mitglied der Sektion und des Alpenvereins bleiben kann". Antwort von dort: "Wenn M. nicht im Krieg war oder vor 1914 AV-Mitglied, gilt er als Nichtarier." Seng forderte Meissinger daraufhin auf, den Verein zu verlassen. Als dieser das ablehnte, wurde er Ende Juni 1935 aus der Sektion ausgeschlossen.

Der Frankfurter Sektionsführer ist damit sogar deutlich härter vorgegangen als es die zu der Zeit geltenden NS-Vorschriften verlangt hätten. Das belegt ein vertrauliches Schreiben vom 22. Februar 1940, das der Führer des Deutschen Alpenvereins, Arthur Seyß-Inquart (führender NS-Funktionär, u.a. zeitweilig Reichsstatthalter für Österreich und Reichskommissar für die Niederlande), an alle Sektionsführer richtete. Darin wird zwar die Neuaufnahme sogenannter "Mischlinge" in den DAV als "untragbar" bezeichnet. Zugleich heißt es aber wörtlich: "Mischlinge, die schon Mitglieder sind, können wegen ihrer Eigenschaft als Mischlinge allein nicht ausgeschlossen werden." Damit war der Ausschluss Meissingers auch nach den Regularien des gleichgeschalteten Alpenvereins nicht erlaubt.

Verfolgung, Wehrmacht und Tod
Meissinger (hinten, 2.v.l.) mit Schülern des Frankfurter Philantropin. Quelle: Joyce Arnon

Nicht lange nach der Machtübernahme durch das NS-Regime verschlechterte sich die Wohnsituation der Meissingers deutlich. Laut den damals von der Polizei geführten sog. "Hausstandsbüchern" (Meldebüchern) zogen Rosa Meissinger und ihre vier Kinder im September 1934 aus dem gemieteten Reihenhaus im Ginnheimer Fuchshohl 49 in eine Mietwohnung in der Hadrianstraße 5 um. Beide Adressen waren Eigentum der gemeinnützigen "Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen" (Vorgängerin der heutigen städtischen Wohnungsbauholding ABG). Mit dem Umzug schrumpfte der Wohnraum deutlich, denn das Haus in Ginnheim, das zur Ernst-May-Siedlung "Höhenblick" gehörte, war mindestens 100 qm groß, mit fünf Zimmern. Die Ernst-May-Wohnungen in der Hadrianstraße waren kleiner und hatten weniger Zimmer.

Die genauen Gründe für den Umzug sind uns derzeit nicht bekannt, auch hat die ABG nach unserem Wissen leider bisher keine Veröffentlichung über die Praxis der AG Kleine Wohnungen in der NS-Zeit vorgelegt. Dass der Wohnungswechsel der Meissingers verfolgungsbedingt geschah, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Denkbar sind mehrere Optionen: Möglicherweise galt Karl August Meissinger 1933 trotz der Trennung von seiner Frau offiziell weiter als Mieter des Hauses im Fuchshohl. Er war zu der Zeit verbeamteter Lehrer am Reformgymnasium Höchst (heute Leibnizschule), wurde aber Ende 1933 wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen. Grundlage war laut der Schulchronik das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dort heißt es in §4 wörtlich: "Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden." Dies könnte zur Folge gehabt haben, dass Karl August Meissinger auch das Mietrecht verlor (und damit auch seine Noch-Ehefrau und Kinder ausziehen mussten).

Nicht auszuschließen ist außerdem, dass Rosa Meissinger aufgrund ihres jüdischen Hintergrunds das Haus mit ihren Kindern verlassen musste, denn die Siedlung Höhenblick war eine sehr beliebte Wohnadresse. Als Anschlussbewohner ist im Frankfurter Adressbuch 1935 jedenfalls ein "Iwanowski, E., Prokurist" verzeichnet. Schließlich könnten auch die finanziellen Probleme von Rosa Meissinger und Kindern den Umzug in eine kleinere Wohnung erzwungen haben.

Ernst Meissinger arbeitete etwa ab 1934 als Lehrer an jüdischen Schulen, zunächst am Philanthropin in Frankfurt. Es gibt Hinweise, dass ihm als sogenanntem "Mischling 1. Grades" der Zugang zu öffentlichen Schulen verwehrt war. Am Pädagogischen Seminar des Philanthropin wurde er ausgebildet. Ca. 1937 wechselte er nach Berlin, um an der privaten jüdischen Leonore-Goldschmidt-Schule zu arbeiten. Ab März 1938 zogen auch seine Mutter und seine Geschwister Marlies und Hans dorthin. Auch Marlies wurde Schülerin der Goldschmidt-Schule. In dem Jahr wurde auch die Scheidung Karl August Meissingers von Rosa Meissinger vollzogen. Ernst Meissingers Schwester Lilli arbeitete ab 1937 als Kindermädchen, zunächst in der Frankfurter Zeppelinallee, dann in Höhn, Kreis Westerburg (Westerwald). Hans musste zwischen März und Oktober 1937 Reichsarbeitsdienst in Siegen leisten.

Ernst Meissinger war als Lehrer ausgesprochen beliebt, das geht aus Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Goldschmidt-Schule hervor, die wir zusammengestellt haben. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nahmen die Repressalien gegen Jüdinnen und Juden und auch gegen sogenannte "Mischlinge" zu, ebenso wuchs die Bedrohung für die Goldschmidt-Schule immer mehr. Leonore Goldschmidt nutzte ihre Kontakte und schaffte es, 1939 eine Dependance in England zu gründen. Auch ein Teil der Lehrer*innen und Schüler*innen gingen nach England, darunter Marlies Meissinger. Ernst Meissinger blieb mit einigen anderen Lehrern und Lehrerinnen in Berlin. Doch mit Englands Kriegserklärung Anfang September 1939 wurden die Grenzen geschlossen. Somit war für ihn und die anderen Lehrkräfte die Flucht dorthin unmöglich geworden.

Aus späteren Schilderungen seines Bruders Hans geht hervor, dass auch seine Mutter Rosa und seine Geschwister Lilli und Hans 1938/39 versuchten, zu emigrieren – allerdings vergeblich. Ihnen fehlten die finanziellen Mittel und im US-Konsulat teilte man ihnen sogar mit, sie seien nicht gefährdet genug, um Visa zu bekommen. Es ist gut möglich, dass auch Ernst auswandern wollte, denn der Zusammenhalt in der Familie war sehr eng.

Zum Februar 1940 wurde Ernst Meissinger zur Wehrmacht einberufen. Sein Bruder Hans, der schon Ende 1939 eingezogen wurde, berichtet später, Ernst habe ernsthaft darüber nachgedacht, den Dienst zu verweigern. Letztlich habe ihn aber die Sorge um die in Berlin lebende Mutter dazu gebracht, doch Soldat zu werden – und die Hoffnung, dass sie damit besser vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschützt sei. Ernst Meissinger überlebte die Soldatenzeit allerdings nicht. Er fiel schon nach wenigen Monaten während der deutschen Offensive in Frankreich, am 11. Juni 1940 bei Oinezy/Marne. Hans berichtet, sein Bruder habe ihm einen Tag vor seinem Tod geschrieben: "Noch ein Tag wie heute, und ich werde es nicht schaffen."

Ernst Meissingers Grab findet sich in der Kriegsgräberstätte in Noyers-Pont-Maugis. Für die Familie war sein Tod ein großer Verlust und ein schwerer Schock - gerade auch deshalb, so Hans, "weil er für Hitler sterben musste".

Fotos zu Ernst Meissingers Leben findest du am Ende dieser Seite in der Bilderstrecke.

Die Überlebenden

Hans Meissinger, der ebenfalls von der Wehrmacht eingezogen worden war und in Frankreich kämpfen musste, wurde kurze Zeit nach Ernsts Tod aus der Wehrmacht entlassen und nach Hause geschickt, wie andere sogenannte "Mischlinge" auch. Als er allerdings kurz darauf in Berlin staatliche Unterstützung für sein Studium beantragte, lehnten die Behörden das mit der Begründung ab, er sei "Nichtdeutscher". Nach Ernsts Tod baten Hans Meissinger und der getrennt lebende Vater Karl August auch den Frankfurter Oberbürgermeister um Unterstützung für das Studium von Hans und Lilli, allerdings vergeblich. Sein Studium konnte Hans Meissinger dennoch abschließen.

Vater Karl August Meissinger war vom Tod seines ältesten Sohnes so getroffen, dass er seine frühere Familie in den Folgejahren vermehrt unterstützte. Laut Hans Meissinger half er seiner ehemaligen Frau Rosa, 1943/44 in Stuttgart und München unterzukommen und so einer drohenden Deportation zu entgehen. Auch Hans' Schwestern Marlies und Lilli gingen nach Süddeutschland.

1947 wanderten Rosa Meissinger und ihre drei erwachsenen Kinder schließlich in die USA aus. Rosa Meissinger lebte nach Angaben von Nachkommen (s.u.) eine Weile mit ihrer Schwester Lilli Oppenheimer Pick in Milwaukee (Wisconsin), bevor sie wieder nach New York zog. Marlies ging zum Chestnut Hill College in Philadelphia (Pennsylvania) und wechselte später zur Fordham University in New York. Nach ihrer Heirat lebte sie in New Jersey. Lilli lebte in New York und zog 1962 nach Blonay in der Schweiz. Auch Hans Meissinger lebte zunächst in New York und ab 1954 mit seiner Frau Hannah Gerber in Los Angeles.

Nachfahren

Bei den Recherchen zu Ernst Meissinger ist es uns gelungen, Kontakt zu einer Nichte Meissingers in den USA zu knüpfen: Joyce Arnon, die mit ihrer Familie in San Francisco lebt. Joyce ist die Tochter von Ernsts Bruder Hans und recherchiert selbst bereits seit Jahren zu ihrer Familiengeschichte. Die frühere Epidemiologin hat mehrfach Deutschland besucht, interessiert sich für deutsche Literatur und spricht sehr gut deutsch. Sie und ihr Cousin Ed Breitinger (Sohn von Ernsts Schwester Marlies und ebenfalls Bergsteiger) konnten uns mit vielen Fotos und Informationen helfen. Wir haben ihnen wiederum viele Dokumente unter anderem zu Ernst Meissingers Zeit im Alpenverein zur Verfügung gestellt. Davon wussten sie bisher nur wenig.

Joyce war, wie sie uns schrieb, sehr berührt, als sie von unserer Arbeit erfuhr, denn den Tod von Ernst Meissinger hat sie als für die Familie sehr prägend erlebt: "Mein Vater, seine Eltern und seine Schwestern sind nie darüber hinweggekommen, dass er so sterben musste, und so früh."

Nicht nur durch ihren Vater und ihren Onkel hat Joyce eine Verbindung zum Rhein-Main-Gebiet. Auch ihre Mutter Hannah Gerber stammte aus Frankfurt. Hannah war die Tochter von Erich Gerber, der Christ war, und seiner jüdischen Frau Emma. Joyces Großmutter Emma entkam noch Anfang 1945 nur knapp der Deportation, und dies dank ihres Ehemannes. Erich Gerber hatte die Scheidung von seiner Frau verweigert und war deshalb im Zwangsarbeitslager Clausthal-Zellerfeld interniert. Er sorgte dafür, dass sie in der Zeit in einem Frankfurter Versteck untertauchen konnte. Beide haben bis in die 1970er Jahre in Frankfurt gelebt. Hannah wanderte kurz nach dem Krieg in die USA aus.

Von Joyce Arnon gibt es außerdem eine Verbindung zu einem anderen früheren Mitglied unserer Sektion: Dr. Eugen Cahen-Brach, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Sein Sohn Fritz, der 1936 in die USA emigrierte und dort den Namen Fred Brock annahm, war Joyces Patenonkel. Sie vermutet, dass ihre Mutter Hannah die Familie Cahen-Brach kannte und bei ihrer Emigration von Fritz/Fred unterstützt wurde.

Im Folgenden eine Audio-Botschaft von Joyce Arnon, dann folgt die Bilderstrecke.

Joyce Arnon
Joyce Arnon
Nichte von Ernst Meissinger
"Er war der Haupternährer der Familie, nachdem sein Vater sich von seiner Mutter scheiden ließ"