„Aber die Sonntage waren den Wanderungen bestimmt: in die Rhön, aus der die Familie meines Vaters stammte, in den Vogelsberg, den Spessart, den Taunus und in den Odenwald.“
Mathilde Maier
Alle Gärten meines Lebens. Verlag Josef Knecht: Frankfurt/Main 1978, S. 48.
Familie
Mathilde Maier beim Schifahren, ca. 1920er Jahre. Foto von Margaret West

Am 14. Juni 1896 wurde Mathilde Wormser, genannt Titti, als zweite Tochter von Leopold Wormser (1855-1925) und Bertha Wormser, geb. Kahn (1867-1942), in Dinslaken geboren. Ihre 1893 geborene ältere Schwester Betty verstarb bereits im Jahr 1918. Ihr Vater war Lehrer an der jüdischen Volksschule in Dinslaken und Direktor des dortigen israelitischen Waisenhauses. Ihr Großvater Joseph Samuel Wormser (1807-1892) ist der letzte Bezirksrabbiner in Gersfeld in der Rhön gewesen. Zudem ist der Vater mit dem berühmten Rabbiner Seckel Löb Wormser (1768-1847) in Michelstadt im Odenwald verwandt. Die Familie Wormser gehörte dem orthodoxen Judentum an, doch hat sich Mathilde nach eigener Aussage von dieser Lebensweise früh losgelöst. Ihre Eltern zogen 1913 nach Frankfurt. Mathilde Maiers Mutter Bertha starb im September 1942 im Getto Theresienstadt.

Mathilde kam 1909 nach Trier auf das damals neugegründete Mädchengymnasium und lebte bei ihrer Tante Clementine. Später war sie auf dem Realgymnasium in Dieburg und ab 1913 auf der Schiller-Schule in Frankfurt. Dort hat sie im Jahr 1915 Abitur gemacht.

"In der Stadt zu wohnen, in der Paul Ehrlich am Speyer-Institut seine bedeutenden Arbeiten zusammen mit dem Japaner Hata veröffentlicht hatte, in der es den Palmengarten gab, großartige Stadtanlagen, den Zoologischen Garten, eine Stadt, in der ein vielfältiges und lebendiges geistiges Leben herrschte, das gab meinem Leben einen ungeheuren Auftrieb" (Mathilde Maier 1978, S. 31).

Sie hat sich früh für die Naturwissenschaften interessiert. "Im "Senckenberg" habe ich damals schon zoologische Kurse mitgemacht, Frösche und Ratten seziert, das großartige naturwissenschaftliche Museum kennen und lieben gelernt" (Mathilde Maier 1978, S. 34).

Zuerst studierte sie an der Universität Frankfurt zwei Semester Philosophie und Mathematik, anschließend in München vier Semester Chemie. Ihre Vorbilder waren Marie Curie (1867-1934), die den Nobelpreis für Physik 1903 und den Nobelpreis für Chemie 1911 erhalten hat, Sophie von Kowalewsky (eigentlich Sofja Wassiljewna Kowalewskaja, 1850-1891), 1884 erste Professorin für Mathematik, und Liesel Meitner (1878-1968), Kernphysikerin und 1926 erste Professorin für Physik in Deutschland.

Von München ist sie regelmäßig in die Alpen gefahren: "Aber in der drückenden Atmosphäre des Krieges waren Wandern, Bergsteigen und Skilaufen im Winter eine notwendige Entspannung. Ich lernte zum erstenmal das Hochgebirge kennen" (Mathilde Maier 1978, S. 36).

Mathilde Wormser heiratete im Mai 1920 Max Hermann Maier. Die religiöse Trauung vollzog der befreundete Frankfurter Rabbiner Dr. Jakob Horovitz (1873-1939). Die Ehe war kinderlos.

Beruflicher Werdegang

Nach Ablegen des chemischen Verbandsexamens ging Mathilde Wormser nach Frankfurt zurück und war dort in der jüdischen Jugendbewegung "Blau-Weiß" aktiv, u.a. als Gruppenführerin. Ab April 1918 war sie erneut an der Universität Frankfurt eingeschrieben. Sie forschte am dortigen physikalisch-chemischen Instituts für ihre Doktorarbeit. Schließlich hat sie im Dezember 1919 ihre mündliche Promotionsprüfung mit der Note "sehr gut" bestanden. Ihre Promotion hatte den Titel "Aufsuchen von Resistenzgrenzen bei der Au-Cu Mischkristallreihe mit elektrochemischer Methode". Ihr Doktorvater Prof. Dr. Richard Lorenz bewertete sie sehr positiv:

"Die Verfasserin hat sich hierbei als eine geschickte Experimentorin erwiesen und sie hat durch Fleiss und Gewissenhaftigkeit all' die manigfaltigen methodischen Schwierigkeiten und dank gründ[licher] Einarbeitung in die Theorie die oft nicht leichten Schwierigkeiten der Deutung der Versuche überwunden. Ausserdem ist aber diese Arbeit mit ganz besonderem Geschick niedergeschrieben, denn es liegt ihr ein ungewöhnlich reiches und bei einer experimentellen Beschaffung vielfach geradezu verwirrendes Tatsachenmaterial zu Grunde. Die Art der Darstellung, welche die Verfasserin gewählt und durchgeführt hat[,] bezeugt die Beherrschung des Gegenstandes derselben" (UAF Abt. 146, Nr. 319).

Wesentliche Teile ihrer Dissertation sind 1921 in der Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie veröffentlicht worden (Lorenz, Fränkel, Wormser). Doch im März 1925 kündigte die Universität Frankfurt an, dass ihr Promotionsexamen verfallen wird, wenn Mathilde Maier nicht bis Ende Juni die vorgeschriebenen vier Exemplare der Dissertation abgibt. Daraufhin hat sie diese Exemplare im Mai 1925 eingereicht, sodass sie den Doktortitel nunmehr offiziell führen durfte.

Von 1931 bis 1933 war sie für die neu geschaffenen Erwerbslosenküchen in Frankfurt tätig, von denen es in den verschiedenen Stadtteilen am Ende 31 gab. Mathilde Maier hat den Verein Erwerbslosenküche als Vorsitzende geleitet.

Rolle in der Sektion Frankfurt
Mathilde Maier beim Klettern, ca. 1920er Jahre. Foto von Margaret West

Mathilde Maier ist im Jahr 1923 der Frankfurter Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins beigetreten, vermutlich empfohlen von ihrem Mann und Dr. Gustav Spier. Aus den bisher eingesehenen Unterlagen lässt sich nicht sagen, ob sie an Veranstaltungen der Frankfurter Sektion aktiv teilgenommen hat, etwa an den Sonntagswanderungen im Frankfurter Umland. Auch bleibt vorerst unklar, ob sie aus der Sektion ausgetreten ist oder ausgeschlossen wurde, weil bisher keine Unterlagen hierzu aufgefunden werden konnten. Angesichts der Satzungsänderungen nach dem Beginn der NS-Diktatur konnte Mathilde Maier spätestens 1934 nicht mehr Mitglied gewesen sein, da sie weder sogenannter "Frontkämpfer" war noch vor 1914 der Sektion beigetreten ist. Angesichts ihrer eigenen sehr starken jüdischen Identität kann aber vermutet werden, dass sie bereits im Jahr 1933 aus der Sektion ausgetreten ist, und zwar spätestens nachdem die neue Leitung unter Dr. Ernst Wildberger explizit die nationalsozialistische Ideologie als Maßstab der Sektionsarbeit gewählt hatte.

In ihren Erinnerungen erwähnt Mathilde Maier den Alpenverein nicht, obwohl sie viel in den Mittelgebirgen gewandert ist, in denen auch die Frankfurter Sektion regelmäßig sonntägliche Wandertouren anbot. "Aber die Sonntage waren den Wanderungen bestimmt: in die Rhön, aus der die Familie meines Vaters stammte, in den Vogelsberg, den Spessart, den Taunus und in den Odenwald" (Mathilde Maier 1978, S. 48).

Verfolgungsschicksal
Bäume in Brasilien. Zeichnung von Mathilde Maier, abgedruckt in: Mathilde Maier 1978, S. 101.

Mathilde Maier hat von 1934 bis 1938 in der Frankfurter Beratungsstelle des Hilfsvereins der Juden gearbeitet und auf diese Weise geholfen, dass verfolgte Juden emigrieren konnten. Diese Tätigkeit führte sie wiederholt in kleinen hessischen Dörfern zu jüdischen Familien, die mit Landwirtschaft und Viehhandel ihren Lebensunterhalt bestritten und daher für die Auswanderung nach Argentinien im Rahmen der Jewish Colonisation Association ausgesucht wurden. Auch beherbergten Maiers in ihrem Haus in der Kleebergstraße Freunde in deren letzten Tagen vor der Auswanderung. Nachdem im Juni 1938 die Nationalsozialisten vorbestrafte Juden in Konzentrationslager verschleppten, entschieden die Eheleute, nun auch auszuwandern. Bereits im November 1938 gelang ihnen zusammen mit der Nichte Margarete Maier über Amsterdam und Southampton die Auswanderung nach Brasilien. Sie reisten von England aus mit der Cap Arkona und erreichten Brasilien im Dezember 1938.

Nachkriegszeit
Mathilde und Max Hermann Maier in Rolândia, Brasilien

Mathilde Maier betrieb mit ihrem Mann Max Hermann Maier ab Januar 1939 im brasilianischen Rolândia eine Kaffeeplantage - zusammen mit dem bereits im April 1936 aus Pommern emigrierten jüdischen Landwirt Heinrich Kaphan (1893-1981) und seiner Frau Käte, geb. Manasse (1906-1995). Ihre Fazenda lag am Flüsschen Jaù. Sie pflanzten auch Mais, Reis und Baumwolle an. Daneben gab es einen Zier- und einen Nutzgarten zur Selbstversorgung, die Mathilde betreute.

"Es gibt eine ganze Mappe voll schöner Blumenbilder von Titti, und man merkt es dem Garten an, daß eine Malerin ihn angelegt hat. Jeder Winkel, jeder Aspekt könnte ein Ausschnitt aus einem Bild sein" (Benary-Isbert, S. 214).

1945 ist die Nichte Margarete Maier in die USA gegangen, wo ihre beiden Geschwister bereits lebten. Mathilde Maier ist wiederholt in die USA gereist, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Im Jahr 1953 wurde sie brasilianische Staatsbürgerin. 1957 hat sie zusammen mit ihrem Mann das erste Mal wieder Europa besucht und war auch in Frankfurt. Beide haben wiederholt in Israel frühere Freunde besucht, etwa Dr. Eugen Meyer, den Syndikus der Israelitischen Gemeinde Frankfurt von 1919 bis 1933, der bereits im Oktober 1933 nach Palästina ausgewandert war. Laut Margot Benary-Isbert hat Mathilde Kindern aus jüdischen Familien in Rolândia Unterricht in Hebräisch und in israelitischer Geschichte gegeben. Im Jahr 1978 recherchierte sie in Michelstadt im Odenwald über das Leben ihres Vorfahren Seckel Löb Wormser, dem Wunderrabbi von Michelstadt. Hieraus entstand ein 1982 veröffentlichtes kleines Buch. Sie starb 1997.

Quellen und Literatur

Center for Jewish History, New York City, Leo Baeck Institute, Max Hermann Maier Collection (AR 6136)

Universitätsarchiv Frankfurt am Main, UAF Abt. 146, Nr. 319 und Abt. 604, Nr. 1663

Richard Lorenz, W. Fränkel, Mathilde Wormser: Elektrochemische Untersuchungen an Gold-Kupfermischkristallen. In: Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 118 (1921), S. 231-253.

Mathilde Maier: Alle Gärten meines Lebens. Verlag Josef Knecht: Frankfurt/Main 1978.

Margot Benary-Isbert: …ein heiterer Abend krönt den reichen Tag. Verlag Josef Knecht: Frankfurt/Main 1968.

Max Hermann Maier: „In uns verwoben tief und wunderbar“. Erinnerungen an Deutschland. Verlag Josef Knecht: Frankfurt/Main 1972.

Max Hermann Maier: Auswanderung. In: Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945. Hrsg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden. Verlag Waldemar Kramer: Frankfurt/Main 1963, S. 382-398 (Dokument IX 1).

Stolpersteine Max Hermann und Mathilde Maier