
Martha Bauer wurde am 14. September 1892 in Frankfurt als Tochter von Jacob Bauer und seiner Frau Auguste, geb. Hahn, geboren. Ihr Vater starb bereits 1895, als sie noch keine drei Jahre alt war. Martha machte ihr Abitur auf dem Realgymnasium Schillerschule. Wahrscheinlich etwa ab 1910/11 studierte sie Zahnmedizin in Würzburg und Frankfurt. Ihre Approbation als Zahnärztin erhielt sie 1916. Mehreren Quellen zufolge wurde Martha Bauer damit eine der ersten deutschen Zahnärztinnen. Nach Abschluss der Ausbildung betrieb sie viele Jahre eine eigene Praxis im Haus Kettenhofweg 70 im Stadtteil Westend, in dem die Familie auch wohnte.
1914 heiratete Martha Bauer den Chemiker Dr. Hugo Bauer. Beide hatten einen Sohn und zwei Töchter: Hildegard, 1915 geboren, Hans Jakob (1918) und Doris (1924). Ihr Mann Hugo arbeitete, unterbrochen vom Kampfeinsatz im Ersten Weltkrieg, in Frankfurt am Chemotherapeutischen Forschungsinstitut Georg-Speyer-Haus.
Schon früh engagierte sich Martha Bauer auch politisch, so beim sozialdemokratischen Frauenverband. Dazu passt ihr Umfeld: Als Mieterin der Bauers lebte im Haus Kettenhofweg 70 jahrelang Emy Metzger, eine der ersten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Sie emigrierte 1935.

In die Frankfurter Alpenvereins-Sektion trat das Paar 1932 ein. An welchen Aktivitäten im Verein sie bis wann teilnahmen, wissen wir bisher nicht - allerdings wissen wir durch Erzählungen ihres Sohnes Hans Jakob, dass sie begeisterte Wanderer waren und die Familie häufig Wanderungen im Taunus unternahm: "Unsere ganze Familie war sehr sportlich. Wir sind jeden Samstag und Sonntag in den Taunus marschiert". Hans Jakob nennt die Hohemark, den Sandplacken, "dann rauf auf den Feldberg oder nach Kronberg, Fuchstanz und Altkönig". Im Winter sei man Ski gefahren.
Der Enkel von Martha und Hugo Bauer, Jon Bauer, hat uns Fotos von Ski- und Bergtouren zur Verfügung gestellt, andere zeigen, dass die Familie auch regelmäßig Kanusport-Ausflüge gemacht hat. Hugo Bauer hat die Fotoalben teilweise akribisch beschriftet, mit maschinengeschriebenen Notizen zu Ort und Datum - so können wir unter anderem Wanderungen in den Dolomiten (Rosetta), Urlaube in der Bretagne oder Ausflüge zur Wasserkuppe rekonstruieren. Mehrfach taucht auf den Fotos Gustav Simon auf, ein Freund der Familie, teils zusammen mit seiner Frau Isabella (auch Bella genannt). Bei ihm dürfte es sich um den jüdischen Kinderarzt Gustav Simon handeln, der bis 1933 am Frankfurter Clementine-Hospital arbeitete. Er emigrierte mit seiner Frau Isabella nach Südamerika, wo er 1955 starb.
Der 1934 in die Vereinssatzung aufgenommene "Arierparagraph" schrieb vor, dass sogenannte "Nichtarier" nicht in der Sektion bleiben konnten - es sei denn, es handelte sich um sogenannte "Frontkämpfer" des Ersten Weltkriegs. Demnach hätte Martha Bauer die Sektion verlassen müssen. Über einen zwangsweisen Ausschluss liegen uns keine Unterlagen vor, allerdings gehen wir davon aus, dass sich in den Gruppen und bei den Aktivitäten der Sektion ab 1933 zunehmend eine Stimmung entwickelt haben dürfte, die eine weitere Teilnahme jüdischer Menschen wohl spürbar erschwert hat.

Während ihr Mann wegen des "Frontkämpferprivilegs" noch bis 1935 unverändert arbeiten konnte, erlitt Martha Bauer mit ihrer Zahnarztpraxis schon ab 1933 Einbußen, weil sie als Jüdin die Kassenzulassung verlor. Ausgrenzung und Schikanen nahmen generell immer mehr zu und trafen auch die Kinder. Über Hans Jakob Bauer wissen wir aus der Familie, dass er 1933 seine Schule, das Goethe-Gymnasium aufgrund der verschärften Stimmung verlassen musste, er begann danach eine Tischlerlehre. 1936 schließlich wanderte die älteste Tochter Hildegard nach Israel aus, kurz danach emigrierte Hugo Bauer, inzwischen als Chemiker entlassen, in die USA.
Martha Bauer konnte mit ihrer jüngsten Tochter Doris erst im Frühjahr 1937 in die USA nachkommen. Die Initiative "Stolpersteine Frankfurt" (s. Quellenangabe) hat zu den Gründen Folgendes recherchiert: "Elli Stoll, die Käuferin ihres Hauses Kettenhofweg 70, die mit ihrem Ehemann, dem Zahnarzt Dr. Wilhelm Stoll, in der Westendstraße 70 zur Miete wohnte, klagte wiederholt auf Schadensersatz für vermeintliche bauliche Mängel, obgleich sie das Haus im Jahre 1936 für nur 36.000 Reichsmark, also weit unter Wert, erworben hatte. Das juristische Hin und Her verzögerte die Ausreise von Martha und Doris Bauer."
In ihrem Wiedergutmachungsverfahren schilderte Martha Bauer später ausführlich, dass die Flucht ihr sehr schwer gefallen sei, dann aber überstürzt stattfinden musste. Sie beschrieb die erzwungene Ausreise als einschneidendes, äußerst belastendes Ereignis. Die frühere Zahnärztin machte geltend, dass sie durch die Erlebnisse in Deutschland und bei der Flucht gesundheitliche Schäden davongetragen habe. Deshalb habe sie in den USA nicht die nötigen erneuten Studien und Examina absolvieren können, um wieder an ihren Beruf anzuknüpfen. Sie wurde in ihrem Bemühen um eine Wiedergutmachung unter erheblichen Beweisdruck gesetzt – so zweifelten die deutschen Behörden etwa an, dass sie überhaupt als Zahnärztin gearbeitet habe. Dies konnte sie aber durch Vorlage diverser Erklärungen früherer Patienten, Patientinnen und ärztlicher Kollegen nachweisen.
Marthas Ehemann Hugo Bauer konnte nach kurzer Unterbrechung in den USA seine erfolgreiche Laufbahn als Chemiker fortsetzen. Von Berufstätigkeiten Martha Bauers ist wenig bekannt. Von 1941 bis 1944 arbeitete sie aber in Washington als Zahnarzthelferin bei der Jewish Social Service Agency. Die Tätigkeit endete, als die Klinik geschlossen wurde. Auch in einer Cafeteria war sie zeitweise tätig.
Sohn Hans Jakob blieb nach der Ausreise seiner Mutter und der jüngeren Schwester Doris 1937 noch in Frankfurt. Nach Auskunft seines Sohnes Jon hatte er, ausgelöst erst durch die NS-Repressalien gegenüber Juden, seit 1933 zunehmendes Interesse für das Judentum entwickelt. Er sei Zionist geworden und engagierte sich in jüdischen Jugendgruppen. Lange dachte er daran, nach Palästina auszuwandern, so war er seinem Sohn zufolge an den Vorbereitungen zur Gründung des Kibbuz Hasorea (im Norden des heutigen Israel) beteiligt. Wo genau er sich in den Jahren bis 1939 aufhielt, lässt sich derzeit nicht genau rekonstruieren, jedenfalls entging er den NS-Verfolgungen mehrfach nur knapp, so die Initiative Stolpersteine, die Reichspogromnacht 1938 sei für ihn ein traumatisches Ereignis gewesen. Jon Bauer geht davon aus, dass sein Vater zwischenzeitlich auch nach Italien und Palästina, wo seine Schwester Hildegard lebte, gereist sein könnte.
Etwa 1937 dürfte Hans Jakob Bauer in einer der jüdischen Gruppen seine spätere Frau Eva, geb. Guggenheim, kennengelernt haben. Sie emigrierte mit ihren Eltern 1938 in die USA, Hans Jakob Bauer konnte ihr erst 1939 folgen. 1940 heirateten beide in New York. Anfang der 40er Jahre wurde er zur US-Armee einberufen, er kämpfte nach Auskunft seines Sohnes Jon unter anderem in Frankreich, Belgien und Deutschland.
Zurücklassen musste Martha Bauer bei ihrer Flucht ihre Mutter Auguste Bauer, die 1937, mit 74 Jahren, im Henry-und-Emma-Budge-Heim für alleinstehende alte Menschen lebte. Es befand sich damals im Edingerweg 9. Auguste Bauer fiel der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer: Zunächst wurde sie zu einem unbekannten Zeitpunkt in die Heil- und Pflegeanstalt nach Bendorf-Sayn gebracht. Von dort wurde sie mit einem Transport am 15. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt wurde sie ermordet. Weitere Infos zur Bendorfer Heil- und Pflegeanstalt finden sich hier.

Jon Bauer ist der jüngste Enkel von Martha und Hugo Bauer und Sohn von Hans Jakob und Eva Bauer. Jon recherchiert seit einigen Jahren die Geschichte seiner Familie. 2024 besuchte er zweimal während einer Deutschlandreise auch Frankfurt am Main - zuletzt im Oktober 2024. Denn am 29.Oktober wurden im Kettenhofweg 70 im Frankfurter Westend, dem Wohnhaus der Familie bis 1936/37, Stolpersteine für Martha und Hugo Bauer sowie ihre drei Kinder verlegt. Wir konnten Jon Bauer persönlich treffen und er teilte mit uns wertvolle Informationen über die Familie. Auch Nancy Bennett, Enkelin von Martha und Hugo Bauer sowie Tochter von Doris Bauer-Derrickson, half uns mit Informationen und Fotos.
Jon Bauer erinnerte sich an seine Großmutter Martha als eine sehr energisch und progressive Frau: "Man würde sie heute eine Feministin nennen." Auch in der Familie spielte sie eine wichtige Rolle, "so wäre mein Großvater ohne ihr Zureden sicher nicht emigriert", sagte Jon.
Nach seinen Worten war die jüdische Identität in der Familie immer präsent, aber die Religion wurde nicht praktiziert. Die Großeltern traten vielmehr zu den Quäkern über, einer christlichen, stark pazifistisch ausgerichteten Kirche. Martha Bauer engagierte sich jahrelang in der Religionsgemeinschaft, das würdigt auch ein Nachruf der Gemeinschaft für sie nach ihrem Tod in der "Washington Post". "Über ihr Leben in Deutschland sprachen die Großeltern nie", erinnerte sich Jon Bauer weiter. Sie seien auch nie wieder nach Deutschland gereist.
Jons Eltern dagegen, Hans Jakob Bauer und Eva, besuchten Deutschland immer wieder. Jon Bauer: "Mein Vater liebte die Alpen sehr, meine Mutter liebte Deutschland." Immer wieder habe sein Vater mit ihm und seinen zwei älteren Schwestern Wander- und Skiausflüge unternommen: "Das spielte für ihn eine große Rolle, so lebte er gewissermaßen seine Kindheit und Jugendzeit nach." In den USA hätten seine Eltern viele deutsche Freunde gehabt und bei Treffen mit diesen immer Deutsch gesprochen. Letzteres dürfte ähnlich auch für die Großeltern zugetroffen haben.
Hans Jakob Bauer starb 94-jährig im Jahr 2013, seine Frau Eva im Jahr 2014. Zuletzt wohnte das Paar in Paramus, New Jersey. Auch seine Eltern hätten über die Verfolgungsjahre in Deutschland geschwiegen, berichtete uns Jon Bauer. Erst Anfang der 1990er Jahre habe sein Vater bei einem Deutschlandaufenthalt ein Interview gegeben und darin sein Schweigen gebrochen, so Jon: "Erst da habe ich erfahren, was ihm widerfahren ist." Bei dem Interview dürfte es sich um das im Sammelband von Petra Bonavita (s. Quellen) wiedergegebene Gespräch handeln.
Über die beiden Töchter von Martha und Hugo Bauer haben wir ebenfalls einige Informationen. Die älteste, Hildegard, war 1936 nach Palästina ausgewandert, damals britisches Mandatsgebiet. Sie heiratete dort den aus Polen eingewanderten Michel (Michael/Mechel) Kramer. Aus einer Passagierliste (s. Anhang) geht hervor, dass das Paar zuletzt in der Stadt Petach Tikwa lebte und 1947 mit den Söhnen Uriel (9; später Robert) und Dan (5) in New York eintraf. Hildegard Kramer-Bauer starb 1986.
Doris Bauer heiratete 1942 den US-Amerikaner Gardner Francis Derrickson und lebte mit ihrer Familie lange in Huntsville, Alabama. Sie starb 85-jährig im Jahr 2010 in St. John"s, Neufundland, Kanada, wo ihre Tochter Nancy lebte. Laut einer Traueranzeige war Doris, zweifache Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, unter anderem begeisterte Tennisspielerin gewesen und viel gereist. Sie war langjährige Unterstützerin der Non-Profit-Organisation Planned Parenthood, die medizinische Dienste, vor allem in den Bereichen Sexualmedizin, Gynäkologie und Familienplanung anbietet.
Bei der Verlegung von Stolpersteinen an der Adresse Kettenhofweg 70 kam es Ende Oktober 2024 zu einem freudigen Wiedersehen der Enkel und Enkelinnen von Martha und Hugo Bauer: Jon Bauer und Ruth Draper (Kinder von Hans Jakob Bauer) trafen in Frankfurt Dan und Robert Kramer (Söhne von Hildegard Bauer-Kramer) sowie Richard Derrickson und Nancy Bennett (ihre Mutter war Doris Bauer-Derrickson) wieder (s. Foto).
Quellenangaben
ancestry.de: Liste in New York ankommender Passagiere, 1947. Abgerufen 24.6.24
Bonavita, Petra (Hg.): Assimilation, Verfolgung, Exil, am Beispiel der jüdischen Schüler eines Frankfurter Gymnasiums. Stuttgart 2002
Hessisches Hauptstaatsarchiv: HHStAW Bestand 518, Nr. 2142
Initiative Stolpersteine Frankfurt: Infoblatt zur Verlegung von Stolpersteinen im Kettenhofweg 70 für die Familie Bauer am 29.10.2024, S. 10-12. Abgerufen am 1.11.24.
Kuntz, Benjamin: Hugo Bauer, Chemiker und Schüler von Paul Ehrlich am Georg-Speyer-Haus. In: Frankfurter Personenlexikon, abgerufen am 3.11.24.
Nachrichtenblätter 1932 der Sektion Frankfurt am Main des Deutschen Alpenvereins
Traueranzeige für Doris Derrickson
Universitätsarchiv Frankfurt am Main: UAF Bestand 604, Nrn. 2608 und 4565
Yad Vashem - Zentrale Datenbank der Holocaustopfer, Eintrag zu Auguste Bauer. Abgerufen 3.11.24