Kindheit und Familie
Arthur Schönflies mit seinen Kindern, links Eva. Um 1912.
Arthur Schönflies mit seinen Kindern, links Eva. um 1912. Aus Thomas Kaemmels Schönflies-Biographie.

Eva Käthe Helene Schönflies, später verheiratete Sonntag, wurde am 15. August 1901 im damaligen Königsberg geboren. Ihre Eltern waren der international angesehene Mathematiker Arthur Schönflies und seine Ehefrau Emma Amalie (geb. Levin). Eva war die zweitjüngste von fünf Geschwistern: Die Schwestern waren Hanna, Elisabeth und Lotte, ihr Bruder war Albert, der später Ilse Eisenberg heiratete und mit dieser und den drei gemeinsamen Söhnen 1944 in Auschwitz ermordet wurde. In Königsberg war Arthur Schönflies seit 1899 Mathematikprofessor an der dortigen Universität. 1911 folgte er einem Ruf nach Frankfurt am Main, wo er den ersten Lehrstuhl für Mathematik bekam. 1920 wurde er Rektor der Universität und war damit der erste Jude in diesem Amt. Die Familie wohnte zuerst in der Schumannstraße 62 und ab ca. 1915 in der Grillparzerstraße 59.

Informationen über Eva Schönflies-Sonntags Schicksal verdanken wir vor allem späteren Veröffentlichungen ihres Sohnes Philipp Sonntag sowie ihres Neffen Thomas Kaemmel, Sohn von Hanna. Thomas Kaemmel hat eine umfangreiche Biographie über Arthur Schönflies geschrieben. Ihm zufolge sind 300 Jahre alte jüdische Wurzeln der Familie in Deutschland nachweisbar.

Thomas Kaemmels Werk verrät einige Details über das facettenreiche Familienleben bei den Schönflies. So schildern Evas Schwestern, die den Holocaust überlebt haben, ihren Vater Arthur als "sehr autoritär". Zugleich war er ein großer Musikliebhaber und konnte im Kreis von Freunden ausgelassen feiern. Die Töchter indes mussten aufgrund seiner traditionellen Geschlechtersicht Einschränkungen hinnehmen: Hanna zufolge hielt Schönflies Frauen für "dumm" und war gegen das Frauenstudium – neben Albert durfte nur Elisabeth an die Universität.

Eva besuchte in Frankfurt die Schillerschule.  In den Jahren 1922/23 absolvierte sie eine Ausbildung im Buchhandel, unter anderem beim Verlag Oldenbourg in München. Eine Zeitlang arbeitete sie in den 20ern noch in München, aus dieser Zeit dürfte das Foto weiter unten (im Kapitel "Zeit im Alpenverein") stammen, das sie mutmaßlich mit dem US-Amerikaner und späteren Elektroingenieur Philipp Guillemin zeigt. Er besuchte ab 1924 die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und wurde dort 1926 promoviert.

In der Königsberger Zeit hielt die Familie noch mehr oder weniger jüdische Speiseregeln ein (von Hanna ist zum Beispiel überliefert, dass sie schon mal ihre koscheren Schulbrote gegen Schinkenbrote eintauschte). In Frankfurt war das wohl nicht mehr der Fall, so feierte die Familie Weihnachten. Zumindest in ihrer Kindheit, so Kaemmel, seien Eva und ihre Geschwister aber Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gewesen. Man sei ferner der Maxime gefolgt: "Juden sollten nicht protzen, denn das würde den Antisemitismus fördern."

Politisch war Arthur Schönflies national-liberal eingestellt und noch in den 1920er Jahren ein überzeugter Deutscher. Das dürfte er an seine Familie weitergegeben haben. Tochter Hanna, die später nur knapp den Holocaust überlebte, meldete sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Krankenschwester und wurde an der Westfront eingesetzt. Albert wurde eingezogen. Thomas Kaemmel erwähnt, dass sich Albert schließlich "unter dem Eindruck der Kriegserlebnisse" habe taufen lassen.

Eva Schönflies heiratete Ende 1928 in Frankfurt-Niederrad den nichtjüdischen Bauingenieur Karlfried Sonntag, der für die Philipp Holzmann AG arbeitete. Am 15. Oktober 1930 wurde der ältere Sohn Peter geboren.  Wann genau in den Jahren danach die Familie aus Frankfurt wegzog, wissen wir nicht genau; in Frankfurter Telefonbüchern für 1932 und 1935 finden sich jedenfalls Einträge für Karlfried Sonntag, wohnhaft Im Burgfeld 119 (1932) bzw. Tiberiusstraße 19 (1935). Um 1935 herum zog die Familie dann offenbar nach Halle an der Saale, wie Peter Sonntag sich heute erinnert. Am 28. Dezember 1938 kam in Halle der jüngere Sohn Philipp zur Welt. Dort ist als Wohnadresse der Familie der Schiepziger Weg 4 bekannt.

Zeit im Alpenverein
Eva Schönflies 1925 auf einem Gipfel in Bayern, ihr Begleiter ist wahrscheinlich Philipp Guillemin.
Eva Schönflies 1925 auf einem Gipfel in Bayern, ihr Begleiter ist wahrscheinlich Philipp Guillemin. Mit freundl. Genehmigung von Peter Sonntag

In der Frankfurter Zeit der Familie Schönflies "spielten Sport und Wandern eine große Rolle", wie die überlebenden Schwestern später berichteten. Vater Arthur Schönflies trat bereits 1912, kurz nach der Ankunft der Familie in Frankfurt, in die Frankfurter Sektion des Alpenvereins ein. Er war zuvor bereits seit 1899 oder 1900 Mitglied der Sektion Königsberg (in Ostpreußen) gewesen und wurde 1927 für 25 Jahre Mitgliedschaft im Alpenverein geehrt. Seine Tochter Eva trat der Frankfurter Sektion 1923 im Alter von 22 Jahren bei, während von den anderen Geschwistern keine Mitgliedschaft in den uns vorliegenden Quellen verzeichnet ist. In dieser Zeit Mitte der 20er Jahre arbeitete sie in München, wo sies, wie das nebenstehende Foto zeigt, ebenfalls Bergtouren unternahm.

An welchen Aktivitäten der Frankfurter Sektion Eva Schönflies-Sonntag teilgenommen hat, wissen wir bisher nicht. Möglich ist, dass sie bei Wanderungen in der Region dabei war. Eventuell hat sie in der Sektion Ilse Eisenberg kennengelernt, die im gleichen Alter wie sie war und später ihren Bruder Albert heiratete. Belege hierfür haben wir bisher aber nicht finden können.

Unklar ist, wie lange Eva und Karlfried Sonntag nach 1933 noch in Frankfurt gelebt haben. Wir gehen davon aus, dass der Wegzug nach Halle etwa 1935 stattfand. Eva hätte jedenfalls laut Satzung aufgrund des 1933/34 eingeführten "Arierparagraphen" ausgeschlossen werden müssen. Unterlagen darüber oder über einen eigenen Rückzug aus dem schnell auf NS-Kurs gebrachten Verein liegen uns nicht vor.

Verfolgung im Nationalsozialismus
Eva Sonntag hält den kleinen Sohn Philipp auf dem Arm.
Eva Sonntag Ende der 30er Jahre mit Sohn Philipp. Mit freundl. Genehmigung von Philipp Sonntag

Eva Sonntag musste in den 1930er Jahren erleben, wie ihre Familie zunehmenden Repressalien der Nationalsozialisten ausgesetzt war. Ihre Mutter Emma, die als Witwe inzwischen nach Berlin gezogen war, ist bis zu ihrem Tod 1939 vielen Repressalien ausgesetzt gewesen, Teile des Vermögens der Familie wurden konfisziert. Emma Schönflies unterstützte einige ihrer Kinder, die in Not gerieten: Bruder Albert in Königsberg verlor 1935 seine Richterposition und damit die Existenz für seine Familie. Er begann ein Chemiestudium. Ab 1938 versuchte er mit Frau und drei Söhnen vergeblich, ein US-Visum zu bekommen. Sie emigrierten in die Niederlande und waren dort jahrelang im Lager Westerbork interniert, bevor alle 1944/45 in Auschwitz ermordet wurden.

Evas Schwester Hanna war mit dem Nichtjuden und Steuerbeamten Ernst Kaemmel verheiratet, der wegen seiner jüdischen Frau zunehmende Schikanen erfuhr. Um 1936/37 ließen die beiden sich zum Schein scheiden. Hanna zog zu ihrer Mutter. Bald musste sie Zwangsarbeit leisten und lebte schließlich ab 1943 versteckt in Berlin, um der wachsenden Gefahr der Deportation zu entgehen. Nach dem Krieg hat sie in einem Lebenslauf diese Verfolgungszeit eindrucksvoll beschrieben.

Elisabeths Ehemann Erich Kaufmann-Bühler wurde 1933 aus dem Schuldienst entlassen, weil er einen jüdischen Vater hatte. Nach der Reichspogromnacht wurde er zeitweise verhaftet. Die Söhne Rolf und Ernst konnten 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien emigrieren, doch starb einer der beiden bereits kurz nach der Ankunft dort. Elisabeth wurde noch im Februar 1945 nach Theresienstadt verschleppt, überlebte aber und kehrte Anfang Juni zu Fuß zurück. Nur Lotte, die vor 1933 KPD-Mitglied geworden war, erkannte früh, welche Gefahr drohte. Sie emigrierte bereits 1933 nach Großbritannien.

Eva Sonntag schien "in einer privilegierten Mischehe zunächst geschützt", wie Thomas Kaemmel schreibt. Dennoch stand Karlfried Sonntag, so beschreibt es sein Sohn Philipp später, unter starkem Druck der Nazis, sich scheiden zu lassen. 1939 schließlich beschloss das Paar, nach Neuseeland auszuwandern. Schiffstickets für den Oktober waren bereits gebucht, doch dann machte der Kriegsbeginn die Ausreise unmöglich. Die Gefahr für Jüdinnen und Juden in sogenannnten "Mischehen" nahm derweil auch in Halle immer mehr zu.

Anfang 1942 vermerkte das Reichssicherheitshauptamt mit Verweis auf Berichte aus zahlreichen Städten, darunter aus Halle: "Aus Meldungen ergibt sich […] übereinstimmend, dass die Sonderbehandlung der mit Deutschblütigen verheirateten Juden in der Bevölkerung Befremden und Unwillen hervorgerufen habe." Ab 1943 wurden dann auch Jüdinnen und Juden in Mischehen verschleppt. Den Veröffentlichungen Philipp Sonntags zufolge drohte man seinem Vater massiv, auch damit, dass er in einem "Selbstmord-Kommando" eingesetzt werde, wenn er die Ehe mit Eva nicht auflöse. Philipp Sonntag wörtlich: "Wenn er bei so einer Mission ums Leben gekommen wäre, wären wir alle deportiert worden."

Eva Sonntag hielt wohl dem Druck der Nazis und den Nachrichten über die Verfolgung der Geschwister nicht stand. Sie nahm sich im Mai 1944 das Leben – offenbar auch, um ihre Söhne und ihren Mann zu schützen. Ihr Mann heiratete laut Philipp Sonntag auf Druck der Nazis eine nichtjüdische Frau und zog mit ihr, ihren Kindern und seinen Söhnen vermutlich noch 1945 "mit Pferd und Wagen" nach Göttingen. Dann folgten Umzüge nach Frankfurt am Main und schließlich nach München, "wo schon 1948 ein neues Haus gebaut wurde".

Nach der NS-Zeit - die Überlebenden
Der junge Philipp Sonntag beim Skifahren in München-Krailling.
Philipp in München-Krailling, Aufnahme von Karlfried Sonntag. Mit freundl. Genehmigung von Philipp Sonntag

Aus Philipp Sonntags späteren Schilderungen seiner Kindheit und Jugend geht hervor, dass nicht nur der Verlust der Mutter, sondern auch die Jahre danach für ihn traumatisch waren. Er engagierte sich lange im Verein "Child Survivors Deutschland - Überlebende Kinder der Shoah e.V.", bis dieser sich Ende 2021 aufgrund des Alters vieler Mitglieder auflöste. In seinem Buch "Forever Alert" beschreibt Philipp Sonntag die Jahre nach dem Tod der Mutter als eine Zeit großer Überforderung, des Lebens im ständigen Gefühl, unerwünscht und allein in der neuen Familie zu sein. Er habe darauf mit auffälligem Verhalten reagiert – ein Teufelskreis. "Mein acht Jahre älterer Bruder war in der Zeit Rückhalt gegen Verzweiflung", schreibt er.

Später studierte Philipp Politikwissenschaft und Physik, kam beruflich gut voran – aber, so erinnert er sich: "Die innere Spannung, das Gefühl, dass nichts was ich leistete, irgendwie zufriedenstellen konnte, hat mich lange nicht verlassen." Er arbeitete als Physiker und engagiert sich bis heute zivilgesellschaftlich, neben den "Child Survivors" auch in anderen Initiativen.

Evas älteste Schwester Hanna (1897-1985) überlebte den Krieg im Versteck und heiratete ihren Mann Ernst Kaemmel 1945 ein zweites Mal. Sie siedelten mit den 1931 und 1936 geborenen Kindern 1949 nach Ostberlin über. Hanna arbeitete fortan beim Deutschen Schriftstellerverband der DDR und war für Soziales zuständig. Sie sei die "gute Mutter der Schriftsteller", formulierte der Lyriker Uwe Berger einmal. Sie hat um 1946/47 ihre Erlebnisse in der NS-Zeit aufgeschrieben und darin die Menschen erwähnt, die ihr und der Familie geholfen hatten: "[...] möchte ich all denen ganz besonders danken, die mir immer wieder halfen, den Armen der Gestapo zu entgehen, sodass ich wirklich wieder als Mensch jetzt unter Menschen leben darf."

Elisabeth Schönflies (1900-1991), verheiratete Kaufmann-Bühler, lebte mit ihrer Familie nach dem Krieg in Heidelberg. Ihr Mann Erich Kaufmann-Bühler war 1946-1950 CDU-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag. Bis zum vorzeitigen Ruhestand 1950 arbeitete er als Lehrer, unter anderem war er Schulleiter des Heidelberger Bunsen-Gymnasiums.

Die jüngste der Schönflies-Geschwister, Lotte Schönflies (1905-1981), lebte seit 1933 in Großbritannien. Sie hatte dort 1934 den Pelzhändler Cyril Levy geheiratet. Sie hatten zwei in den 1930er Jahren geborene Kinder, Arthur und Anna. Nach Auflösung des Pelzgeschäftes ihres Mannes Mitte der 1960er Jahre arbeitete sie noch einmal mehrere Jahre als Sekretärin, unter anderem in einer Arztpraxis. Laut Thomas Kaemmel bewahrte sie jahrzehntelang persönliche Dokumente ihres Vaters auf.