„Ich jedenfalls habe sofort nach Erhalt der Kenntnis, dass Herr Meissinger Nichtarier ist, ihn veranlasst, seinen Austritt aus dem Verein zu erklären! Mit Bergheil und Heil Hitler!“
Dr. Rudolf Seng
Sektionsführer
17. Juni 1935
Biographie

Geboren wurden Rudolf Seng am 12. Mai 1893 in Frankfurt am Main als Sohn von Karl und Johanna Seng. Als Jugendlicher lebte er am Schweizer Platz (zeitweise: Gustav-Adolf-Platz) 49 in Sachsenhausen, wo er auch die Oberrealschule besuchte. Seng nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde mehrfach verwundet, denn er erhielt das Verwundetenabzeichen in Schwarz und das Frontkämpferkreuz. Nach dem Krieg studierte er in München, Frankfurt und Göttingen die Fächer Naturwissenschaften, Chemie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Am 24. Juni 1920 schloss er, inzwischen 27-jährig, sein Studium in Frankfurt mit einer Promotion in Chemie ab. Ein Jahr später, 1921, heiratete Seng Franziska Schwing und blieb mit ihr wohl für den Rest seines Lebens in Frankfurt wohnen, wo er als Chemiker arbeitete. Während des Krieges leitete er außerdem eine Abteilung der Luftschutzpolizei. Seng starb, als die Alliierten nahe seines Wohnorts in Sachsenhausen nach Frankfurt einrückten. Nach seiner Sterbeurkunde wurde er am 26. März 1945 um 16 Uhr erschossen.

Dr. Rudolf Seng trat bereits im März 1933 der NSDAP bei und war zudem Mitglied in vielen weiteren nationalsozialistischen Verbänden, wie etwa der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung und NS Studentenbund.

Seng als "Führer" der Sektion Frankfurt am Main
Reichssportführer von Tschammer und Osten (links) im Gespräch mit dem neuen Alpenvereinsführer Dr. Seys-Inquart (rechts), in der Mitte Dr. Rudolf Seng, im August 1938.
Reichssportführer von Tschammer und Osten (links) im Gespräch mit dem neuen Alpenvereinsführer Dr. Seys-Inquart (rechts), in der Mitte Dr. Rudolf Seng, im August 1938. Foto: Fritz Kempf, Frankfurt).
Sektion Frankfurt am Main.

Dr. Rudolf Seng ist sicherlich eine der Schlüsselfiguren der NS-Zeit. Er steuerte die Sektion Frankfurt maßgeblich durch die 1930er und 1940er Jahre und strukturierte in dieser Zeit den Vorstand und das Vereinsleben um. Als Sektionsführer oblag ihm zudem die Verantwortung für die ideologische Linie und dies betraf auch die Frage nach dem Umgang mit den als jüdisch verfolgten Mitgliedern. Dass er diese Machtstellung erlangen konnte, lag nicht nur an seiner strengen Parteitreue und seinen guten Kontakten zu hochrangigen Funktionären, sondern auch an seiner jahrzehntelangen Mitgliedschaft im Alpenverein.

Seng trat in den Alpenverein im Jahr 1920 ein, also wohl noch als Student oder direkt nach seinem Abschluss. 1922 wurde er bereits in den Vorstand berufen, 1925 übernahm er das Amt des Führerreferenten. Ein Jahr später, 1926, folgte zusätzlich das Amt des Hüttenreferenten, das er auch nach seiner Wahl zum Sektionsführer im Jahr 1934 behalten sollte. Insbesondere für seine Tätigkeit als Hüttenwart war Seng in der Sektion sehr geschätzt. Zu seinen Aufgaben zählte etwa der Umgang mit dem zunehmenden Wintertourismus in den 1920er Jahren, für dessen Bewältigung Seng nachhaltig einen neuen Referenten auf Bundesebene forderte. Auch als Sektionsführer setzte er sich 1935 für die Wiedrgründung einer Ski-Abteilung ein.

Wegweisend war Sengs Wahl zum Sektionsführer im Februar 1934. Die zunehmende Gleichschaltung der einzelnen Sektionen des Alpenvereins hatte diese interne Umstrukturierung letztlich erzwungen. Von nun an sollte ein Führer die gesamten Belange der Sektion eigenmächtig steuern. Erster Führer war nicht Seng, sondern der 33-jährige Dr. Ernst Wildberger, der in der Sektion bisher kaum in Erscheinung getreten war. Ganz rechtmäßig verlief dessen Ernennung wohl nicht, doch können wir heute nicht mehr hinter die Kulissen schauen: Eigentlich war der lang verdiente Vorsitzende Dr. Max Moritz Wirth im September 1933 zum kommissarischen Führer gewählt worden, hatte die Wahl dann aber aus persönlichen Gründen abgelehnt – vielleicht wurde er zu diesem Schritt gezwungen. Wildberger hatte das Führeramt nicht lange inne, denn er übernahm schon ein Jahr später die Führung der Gaue XII (Oberhessen) und XIII (Südwest), stand also für eine Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung. Dr. Rudolf Seng wurde einstimmig zu seinem Nachfolger gewählt. In seinem ersten Schreiben im Mitgliedsblatt vom März 1934 mahnte Seng, noch ohne das nationalsozialistische Pathos späterer Jahre, die Mitglieder zu "Ruhe und Disziplin" und rief damit vielleicht auch seine Gegner zur Ordnung. Auf der ersten Beiratssitzung berief Seng schließlich die Mitglieder des Vorstands und bestätigte dabei im Wesentlichen die Auswahl seines Vorgängers Wildberger. Darunter waren etwa Fritz Peters als Schriftführer des Nachrichten-Blatts, Max Tasche leitete die wissenschaftliche Abteilung und Dr. Ernst Wildberger war für Vorträge und juristische Angelegenheiten zuständig. Zwei Personalien sind gesondert erwähnenswert: Max Moritz Wirth wurde zu Sengs Stellvertreter ernannt, Dr. Kurt Blaum zum Referenten für Vortragswesen. Blaum war zuvor von den Nationalsozialisten als Oberbürgermeister von Hanau abgesetzt worden, da er die parteitreue Linie nicht ausreichend vertrat.

Mit der Wahl Sengs verankerte die Sektion das "Führerprinzip" auch in ihrer Satzung, die im Februar 1934 noch nachträglich angepasst werden musste – Wildberger und sein Vorstand waren eigentlich satzungswidrig im Amt gewesen. Von nun an oblagen alle wichtigen Entscheidungen dem Zweigführer, der alle drei Jahre wiedergewählt wurde. Außerdem fügte man unter §3 einen "Arierparagraphen" ein, der den Umgang mit den als jüdisch verfolgten Mitgliedern regelte.

Seng war auch jenseits der Sektion im Gesamtverband aktiv und bekleidete eine Reihe von Posten. Ab 1934 war er Gebietswart für die Ötztaler und Stubaier Alpen und zudem Mitglied des Hauptausschusses. Zwei Jahre später war er außerdem im NSRL als Gauwart für Bergsteigen für die Gaue Kurhessen, Hessen-Nassau und ab 1941 für den Gau Westmark zuständig.

Seng engagierte sich während seiner gesamten Zeit als Zweigführer sehr für das Vereinsleben. Er führte selbst Wandertouren, hielt Vorträge und organisierte die beliebten Vereinsfeste, wie etwa Volksfeste und Winterfeste. Besonders gewürdigt wurde er für seinen Einsatz für das "Vereinsheim Oberreifenberg" im Taunus. Seng war es 1935 gelungen, die Hütte von der "Deutschen Arbeitsfront" für 70 Reichsmark im Monat zu pachten – sehr wahrscheinlich dank seiner Kontakte in die NSDAP, die den frühren Besitzer, den Verein "Jugendheim der christlichen Gewerkschaften", enteignet hatte. 1938 konnte die Sektion das Haus schließlich kaufen, es blieb jedoch nicht lange in ihrem Besitz. Schon 1941 wurde es für die Hitlerjugend beschlagnahmt.

Das Sektionsleben kam spätestens nach zwei Bombenangriffen Anfang des Jahres 1944 zum Erliegen. Am 3. April 1944 schilderte Seng in einem Brief an die Vereinsführung in Innsbruck eindrücklich das Maß der Zerstörung:

"Ich muss ihnen die traurige Mitteilung machen, dass die Stadt Frankfurt Main […] der Vergangenheit angehört […] Das gesamte Verkehrs- und Geschäftsleben liegt auf Monate hinaus brach, keine Verkehrsmittel sind gebrauchsfähig, ebenso gibt es kein Gas, kein Wasser, keinen Strom, kein Telefon, keine Post u.s.w. Frankfurt selbst ist im wahrsten Sinn des Wortes eine tote Stadt […] Von dem Schicksal der Herren meines Beirats weiß ich bis heute noch nichts […] Die eben wieder arbeitsfähige Geschäftsstelle ist meist zerstört, auch das Büro von Herrn Wirth […] Wie das Leben der zurückgebliebenen Bewohner, es ist eine sehr kleine Anzahl, weitergehen soll, ist noch nicht zu übersehen, ebenso wenig die Weiterarbeit des Zweiges Ffm […]".

Erst im April 1946 konnte sich die Sektion wieder versammeln, um einen neuen Vorstand zu wählen und sich eine neue Satzung zu geben.

Der Ausschluss als jüdisch verfolgter Mitglieder aus der Sektion

Als Zweigführer verantwortete Seng maßgeblich den Ausschluss jüdischer Mitglieder, sofern diese noch nicht freiwillig ausgetreten waren. Es gibt aus den 1930er Jahren keine vollständigen Mitgliederlisten, doch aus dem Vereinsbericht des Jahres 1933 geht klar hervor, dass die Mitgliederzahlen sanken. Dies hing nicht nur mit den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen zusammen, denn es bestand zu diesem Zeitpunkt eine Reisesperre nach Österreich, die einen Besuch der sektionseigenen Hütten unmöglich machte; die abnehmenden Zahlen hatte ihre Ursache auch im Austritt einer "Anzahl nichtarischer Mitglieder", wie es im Nachrichten-Blatt heißt. Wer "Arier" und "Nicht-Arier" war, definierte seit 1933 der sogenannte "Arierparagraph". Dieser beschränkte unter anderem die Neuaufnahme auf als "arisch" definierte Mitglieder. Als jüdisch verfolgte Mitglieder sollten hingegen nicht ausgeschlossen werden, ein Regularium, das auch von der Zentrale des gleichgeschalteten Alpenvereins bestätigt wurde und erst in der Einheitssatzung von 1942 nachgeschärft wurde. Seng setzte sich über diese Regelung jedoch nachweislich hinweg. Als er erfuhr, dass das Mitglied Dr. Ernst Meissinger eine jüdische Mutter hatte, kontaktierte er den übergeordneten Verwaltungsausschuss, der ihm die "nicht-arische" Abstammung Meissingers bestätigte. Seng forderte Meissinger im Jahr 1935 daraufhin auf, aus der Sektion auszutreten. Als Meissinger sich weigerte, beschloss Seng eigenmächtig den Ausschluss. Dr. Ernst Meissinger ist bis jetzt das einzige Beispiel, dessen aktiver Ausschluss aus der Sektion gut dokumentiert ist, doch ist zu vermuten, dass im Hintergrund massiver Druck auch auf andere als jüdisch definierte Mitglieder ausgeübt wurde, die Sektion zu verlassen. Viele taten dies freiwillig, um sich der zunehmend antisemitischen und völkischen Stimmung innerhalb des Vereins zu entziehen.

Nationalsozialistische Propaganda als "Sektionsführer"
Sektionsmitglieder mit Hakenkreuz-Fahne auf dem Weg zur Einweihung des AV-Hauses Oberreifenberg, Mitte der 30er Jahre.
Sektionsmitglieder unterwegs zur Einweihung des AV-Hauses Oberreifenberg, Mitte der 30er Jahre.
Quelle: Archiv der Sektion Frankfurt am Main

Die Frankfurter Sektion wurde unter Sengs Führung nationalsozialistischer Ideologie angepasst. Dies beinhaltete zum einen die Umstrukturierung des sportlichen Programms: Sportliche Aktivitäten erhielten eine paramilitärische Note, wie sich etwa am Drill der Jungmannschaften erkennen lässt. Zum anderen benutzte Seng vor allem die Nachrichtenblätter zur Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda.

Insbesondere die Einweihungsfeier des Oberreifenberghauses im Oktober 1935 stand im Zeichen des Hakenkreuzes. Man wanderte mit einer "fröhlich flatternden" Hakenkreuzfahne zur neuen Hütte und Seng huldigte dem Führer in seiner Rede gleich mehrfach als "leuchtende[m] Vorbild, […] der die Berge über alles liebe." Ähnlich freudig begrüßte man den erzwungenen Anschluss Österreichs im März 1938 und die daraus resultierende Umbenennung des DuOeAV in "Deutscher Alpenverein".

Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 feierte Seng in nationalsozialistischer Propagandasprache:

"In Polen schlagen unsere herrlichen Armeen den übermütigen Angriff der größenwahnsinnig gewordenen polnischen Regierung zurück."

Stolz betonte er die Bereitschaft der Sektionsmitglieder, "in vorderster Linie für Volk, Vaterland und Führer" zu kämpfen und wies darauf hin, dass gerade die Alpinisten "für das nunmehr erreichte Ziel des großdeutschen Reiches unentwegt gearbeitet" hätten (Nachrichten-Blatt Nr. 9 vom September 1939, S. 97). Auch in der Weihnachtsansprache von 1940 lobte Seng die "Tatkraft der deutschen Wehrmacht" und idealisierte das Heldentum und die Treue der Bergsteiger "für eine neue und bessere Zukunft des deutschen Volkes."

Bewertung Sengs in der Nachkriegszeit

Das erste Nachkriegstreffen der Sektionsmitglieder im April 1946 diente nur in geringem Maß der Aufarbeitung der Jahre der NS-Diktatur. Man leugnete nicht nur jegliche ideologische oder faktische Beteiligung am NS-Apparat, sondern überhöhte auch die Funktion des "Führers" Seng. Max Moritz Wirth, der kommissarische Vorsitzende, sagte in seiner Rede an die Hauptversammlung:

"Es ist zu bedauern, dass – das muss man schon sagen – schamlose und verbrecherische Gerüchte dazu geführt haben, sein Ansehen mindern zu wollen […] 1933 kam, und der neue Kurs trat mit Zwang und Befehlen seine Herrschaft an und ich musste nach fünfzehn Jahren Vereinsleitung gezwungen zurücktreten. Herr Dr. Seng war der gegebene Nachfolger in diesem Fall, da er es allein einrichten konnte, dass er trotz des neuen Regierungskurses die alten Ideale des Alpenvereins hochzuhalten verstand und sie nicht verwässern und verflachen liess. Mit grosser Diplomatie ist es ihm oft gelungen, unerfreulichen Zwang der neuen Reichsorganisationen abzuwenden oder totlaufen zu lassen […]" (Protokoll der Rede vor der 74. Hauptversammlung am 7. April 1946, S. 3).

Dies steht in starkem Kontrast zu Sengs Vorgehen gegen die als jüdisch verfolgten Mitglieder – dass er den Ausschluss von Ernst Meissinger proaktiv und ohne Rechtsgrundlage vorantrieb, ist wohl nicht zuletzt seiner eigenen ideologischen Haltung zuzuschreiben. Mit dieser wollte sich die Sektion im Jahr 1946 jedoch nicht auseinandersetzen.

Quellen und Literatur

 

Archiv der Sektion Frankfurt am Main

Nachrichten-Blatt der Sektion Frankfurt am Main

Martin Frey, Chronik der Sektion Frankfurt am Main, erscheint 2023