Aktuelles

Misshandelt und verschleppt: Die Reichspogromnacht und die Opfer in der Sektion

vom

Die brennende Börneplatzsynagoge am 10. November 1938.  Quelle: CC BY 4.0 - Wikimedia Commons
Die brennende Börneplatzsynagoge am 10. November 1938. Quelle: CC BY 4.0 - Wikimedia Commons

Brennende Synagogen, verwüstete jüdische Geschäfte, Zehntausende misshandelte und verschleppte Juden, viele Tote: Das ist das, was wir mit der "Reichspogromnacht" 1938 verbinden, die sich am 9. November erneut jährt. Aber welches Echo hat der reichsweite und teils vom NS-Regime gesteuerte Gewaltausbruch, der insgesamt mehrere Tage dauerte, damals in der Frankfurter Alpenvereins-Sektion gefunden? Wir vom Sektionsteam "Spurensuche Nationalsozialismus" haben recherchiert und Geschichten verdrängter Opfer gefunden.

Zuerst die bestürzenden Zahlen: Im gesamten Deutschen Reich wurden bei den Novemberpogromen etwa 1400 Synagogen und Bethäuser zerstört, etwa 30.000 jüdische Männer zwischen 18 und 60 Jahren wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. Auch in Frankfurt konnte in diesen Tagen wohl niemand übersehen, was geschah: In der Nacht zum 10. November 1938 wurden die Synagogen in der Börnestraße, am Börneplatz, in Höchst und an der Friedberger Anlage völlig niedergebrannt, weitere Synagogen und unzählige jüdische Geschäfte massiv verwüstet. Mehr als 3000 jüdische Männer wurden in der Festhalle zusammengetrieben, nachdem man sie von ihren Arbeitsplätzen oder von zu Hause weggeschleppt hatte, und dort teils schwer misshandelt. Genau 3155 Männer, das weiß man heute, wurden dann von der Festhalle aus in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald deportiert.

Angesichts der hohen Zahl ist klar, dass unter den Opfern des antisemitischen Terrors in Frankfurt auch jüdische Mitglieder bzw. frühere Mitglieder der Frankfurter Sektion des Alpenvereins waren. Sieben Namen haben wir bisher gefunden:

Siegmund Kaiser, 1882 geboren, Rechtsanwalt, 1920 der Frankfurter Sektion beigetreten: Er könnte 1938 noch Mitglied gewesen sein, denn er fiel als sogenannten "Frontkämpfer" des 1. Weltkriegs nicht unter den Ausschluss sogenannter "Nichtarier", den die Sektion mit einer Satzungsänderung 1934 verfügt hatte. Während der Novemberprogrome wurde Kaiser ins KZ Dachau verschleppt, von wo er am 29. Dezember entlassen wurde. Ende 1938 verlor er aber, wie alle jüdischen Rechtsanwält:innen, per NS-Verordnung seine Zulassung als Rechtsanwalt. Sein Versuch, zu emigrieren, scheiterte – 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.

Ludwig Reinheimer, 1894 geboren, Arzt, 1922 der Sektion beigetreten: Auch Reinheimer war als "Frontkämpfer" nicht vom "Arierparagraphen" der Vereinssatzung von 1934 betroffen. Er wurde im November 1938 für einen Monat im KZ Buchenwald eingesperrt. Er und seine Familie (seine Ehefrau war Christin, die zwei Töchter konfessionslos) waren davor und danach zunehmenden Repressalien ausgesetzt, bis er schließlich Anfang 1945, erneut in KZ-Haft, ermordet wurde. Vom Ehepaar Reinheimer sind bis Anfang der 30er Jahre Berichte über ausgedehnte Wanderungen und Klettertouren überliefert.

Robert Rosenburg: Der 1899 geborene spätere Rechtsanwalt trat 1923 in die Sektion ein. Auch er kämpfte im 1. Weltkrieg und wurde schwer verwundet, die Sektion konnte ihn 1934 also nicht aufgrund des "Arierparagraphen" ausschließen. Während der Novemberpogrome 1938 stürmte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) Rosenburgs Anwaltskanzlei und durchsuchte sie, er kam zeitweise ins KZ Buchenwald. 1941 wurde er zusammen mit seiner Mutter in das Ghetto Lodz deportiert, wo beide starben.

Max Salomon: 1884 geboren, Jurist und Bankdirektor. Salomon trat schon 1905 in die Frankfurter Sektion ein. Auch er fiel nicht unter das "Nichtarierverbot" der Vereinssatzung von 1934, konnte formal also nicht ausgeschlossen werden. Im November 1938 wurde Salomon im Zuge der Novemberpogrome in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Auch diese Erfahrung führte dazu, dass er seine Auswanderung vorantrieb: Im April 1939 konnte er schließlich nach Großbritannien fliehen.

Stefanie "Nini" Hess, 1884 geboren, gehörte zusammen mit ihrer Schwester Carry zu den bedeutendsten Fotografinnen der Weimarer Republik. Sie trat 1921 der Frankfurter Alpenvereins-Sektion bei. Laut der 1934er-Satzung des auf NS-Linie eingeschwenkten Vereins hätte sie ausgeschlossen werden müssen, uns liegen aber keine Dokumente dazu vor. Ab 1933 hatten die Schwestern Hess kaum noch genug Aufträge zum Überleben. Carry emigrierte nach Frankreich, Nini blieb. In der Pogromnacht im November 1938 verwüsteten Angehörige der SA das komplette Hess'sche Fotostudio mit dem Negativ- und Bildarchiv und der fototechnischen Ausstattung. Damit war für sie jede weitere Arbeit unmöglich geworden. Nini Hess wurde 1943 von den Nazis verschleppt und wahrscheinlich in Auschwitz ermordet.

Paul Loewe, 1912 geboren und 1932 in die Frankfurter Sektion des Alpenvereins eingetreten, emigrierte 1934 nach Mexiko, weil er sein Medizinstudium unter dem NS-Regime nicht fortsetzen konnte. Er verlor seinen Vater Otto Loewe bei den Novemberpogromen: Otto Loewe, der bis 1933 Chefarzt des Markuskrankenhauses gewesen war, wurde von den NS-Schergen in der Festhalle so schwer geschlagen, dass er am 12. November an inneren Blutungen in Milz und Gehirn starb.

Robert Max Hirsch, 1883 geboren und bereits seit 1908 Sektionsmitglied, war erfolgreicher Frankfurter Unternehmer und Kunstsammler. Seine Familie war bergbegeistert, auch sein Vater und ein Bruder waren Mitglieder. Robert Max Hirsch emigrierte nach der Machtübernahme der Nazis noch 1933 in die Schweiz, erlitt dabei aber große Vermögensverluste. Seinen älteren Bruder Carl Siegmund Hirsch kosteten die Novemberpogrome 1938 das Leben: Er wurde im KZ Buchenwald so schwer misshandelt, dass er bereits am 25. November starb. Das, obwohl sein Bruder Robert eine halbe Million Schweizer Franken gezahlt hatte, um ihn freizubekommen.

Wir gehen davon aus, dass darüber hinaus weitere Mitglieder oder frühere Mitglieder der Frankfurter Sektion zu Opfern der Novemberpogrome wurden. Wie hat die damalige Führung die Pogrome wahrgenommen, welche Rolle haben Sektionsmitglieder eventuell dabei gespielt? Dazu liegen uns keine Nachweise vor. Wir wissen allerdings, dass zum Beispiel Max Tasche, der in den 30er Jahren führende Funktionen in der Sektion hatte, schon seit 1933 Mitglied der NSDAP und der SA war. SA-Gruppen waren an den November-Ausschreitungen gegenüber Juden reichsweit zentral beteiligt. Gab es also eine Verwicklung von führenden Sektionsmitgliedern? Wir recherchieren laufend weiter und hoffen, noch mehr herauszufinden.

In den monatlichen Sektionsmitteilungen für die Mitgliedschaft, den sogenannten "Nachrichten-Blättern", finden sich im November und Dezember keine Bezugnahmen auf die schweren Pogrome. Über die Opfer wurde geschwiegen - wie überhaupt die Ausgrenzung jüdisch markierter Mitglieder seit 1933 im Stillen stattfand, während die Anpassung von  Vereinsleben und -strukturen an die NS-Linie zügig voranschritt. Das zeigt sich auch in den Themen der Nachrichten-Blätter im Spätherbst 1938.

In den Sektionsmitteilungen von November 1938, die offenbar um den 15. des Monats druckfertig vorlagen, prangt auf der Titelseite unten links erstmals der Reichsadler mit Hakenkreuz. Nachdem die Wehrmacht Anfang Oktober die Sudetengebiete der Tschechoslowakei besetzt hat, schwärmt gleich der zweite Text des Blattes über das "Sudetenland, ein lockendes Reiseziel". Es sei "alles deutsches Land, das nun heimgefunden hat", schreibt der Autor Hans F.W. Kasten. Er erzählt von "germanischen Stämmen", die schon der römische Geschichtsschreiber Tacitus dort vorgefunden habe, auch Goethe habe längere Zeit in Marienbad verbracht. So wird der aggressive Expansionsdrang des NS-Staates bejubelt und verharmlost – nicht zum ersten Mal.

Dass die Stadt Frankfurt gerade erst von einem Gewaltausbruch erschüttert worden ist und mehr als 3000 Juden verschleppt worden sind, hinterlässt auch im Dezemberheft keine Spuren. Es wird vielmehr bestimmt von den üblichen Tourenberichten, Ausblicken ins neue Jahr und vor allem von der Vorfreude auf das berühmte Winterfest der Sektion im Zoogesellschaftshaus. Das ist in der damaligen Frankfurter Stadtgesellschaft berühmt und lockt jährlich hunderte Gäste an. Die Mitglieder erfahren überdies, dass der "Reichssender Frankfurt" des vom NS-Regime gleichgeschalteten Rundfunks "volle eineinhalb Stunden lang unsere Darbietungen an Musik und Gesang … in die Welt übertragen" werde.

Zu dem Zeitpunkt laufen die NS-Kriegsvorbereitungen auf Hochtouren. Dass auch der Alpenverein in Frankfurt seinen Beitrag leistet, belegt in diesem Dezember ein Aufruf an die Mitglieder unter der Überschrift "Wehrmacht und Bergsteigerjugend": Demnach ist es "erwünscht, dass bergfreudige und naturverbundene junge Bergsteiger und Skifahrer in die Reihen jener Truppenverbände treten, denen im Ernstfall besonders ehrenvolle Leistungen im Hochgebirge vorbehalten sein werden." Schriftliche Freiwilligenbewerbungen "für Herbst 1939" einschließlich einer Empfehlung durch die Sektion, "aus der die bisherigen bergsteigerischen Leistungen ersichtlich sind", sollen bis 5. Januar 1939 eingereicht werden.

Es ist nicht der erste Appell dieser Art: Der erste ist schon 1937 erschienen. Und noch viel früher sind Nachtwanderungen zu "Wehrsportübungen" geworden, hat man dem bergsteigenden Nachwuchs Schießtrainings und Preisschießen angeboten. Die Militarisierung des Frankfurter Alpenvereins und vor allem seiner Jugendarbeit ist seit 1933 in vollem Gange - genau wie die Verdrängung derer aus den eigenen Reihen, die vom NS-Regime als Jüdinnen und Juden stigmatisiert waren.

Viele weitere Details über die Frankfurter Sektion in der NS-Zeit gibt es hier.

Zurück